Bild : Friedensforum Neumünster

Frieden schaffen ohne Waffen?

c/o Siegi Lauinger, Kiel

siegfried.lauinger@gmx.de



Frieden schaffen ohne Waffen – geht das?

Um den Frieden zwischen rivalisierenden Staaten zu erhalten, gibt es die Instrumente der Konfliktvermeidung und Konfliktbearbeitung. Was aber, wenn Prävention und Konfliktbearbeitung versagen und es zum Schlimmsten kommt und einer der Beteiligten zu den Waffen greift? Wir haben es jetzt erlebt: Minsk II und die russischen Vorschläge Ende letzten Jahres haben den Ukraine-Konflikt nicht behoben. Russland ist am 24.02. 2022 in die Ukraine einmarschiert.

Gibt es in einer solchen Situation nur die Möglichkeiten entweder zu kapitulieren oder sich mit der Waffe zu verteidigen? Die Ukraine hat sich entschieden, den russischen Aggressoren mit der Waffe in der Hand entgegenzutreten.

Aus Sicht einer Bevölkerung geht es beim Kampf gegen eine drohende Besetzung immer um die Frage, ob ein solcher Kampf letztlich die Substanz dessen zerstören würde, was verteidigt werden soll.

Welche Zerstörungen der Krieg in der Ukraine inzwischen an Menschenleben, und Infrastruktur angerichtet hat, können wir jeden Tag in den Nachrichten erleben. Hier ein Ausschnitt.


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Deshalb ist es mehr als berechtigt, die Frage zu stellen: Kann gewaltfreier ziviler Widerstand gegen einen Aggressor eine erfolgreiche Alternative zur militärischen Verteidigung sein?

Die historische, politische, soziologische und psychologische Forschung sagt ja: Es gibt eine Alternative. Damit ist die gewaltlose Soziale Verteidigung gemeint.

Gewaltfreiheit bedeutet, dass gegen eine drohende oder faktische Besetzung nur Methoden zum Einsatz kommen, die nicht zu physischen Schäden von Menschen führen. Allerdings ist Zwang nicht ausgeschlossen. Auch ist Sabotage erlaubt, sofern sie nicht zur Schädigung von Menschen führt.

Gewaltlosigkeit in dem hier benutzten Sinn ist nicht weltanschaulich oder religiös motiviert, sondern rechtfertigt sich allein als Kennzeichen einer Verteidigungsmethode, die meist wirksamer und weniger Ressourcen- und Menschenleben zerstörend ist, als bewaffneter Widerstand.


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Die möglichst zahlreiche Beteiligung verschiedener Bevölkerungsschichten aller Altersgruppen, von Männern und Frauen, ist eine wesentliche Voraussetzung für erfolgreichen Widerstand. Die Hemmschwelle für die freiwillige Beteiligung am Widerstand ist bei Gewaltfreiheit wesentlich niedriger als bei bewaffnetem militärischem oder guerillamäßigem Widerstand. Gewaltfreiheit entzieht den neuen Machthabern Gründe gewaltsam gegen die Widerstand Leistenden vorzugehen, erschwert auch die diesbezügliche Propaganda gegenüber der eigenen Bevölkerung des angreifenden Landes.


Was sind die Ziele der sozialen Verteidigung?

Die Aggressoren verfolgen mit der Besetzung einen oder mehrere Zwecke, wegen denen der Krieg begonnen wird. Und manchmal müssen sich die Akteure des zivilen Widerstandes auch mit Teilzielen zufrieden geben.


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Ziel der Verteidigung ist es, diese Zwecke zu vereiteln und die Nutzung der menschlichen und materiellen Ressourcen des besetzten Landes zu erschweren. So war es beispielsweise ein erklärtes Ziel der Besetzung Dänemarks während des 2. Weltkrieges durch die Deutsche Wehrmacht die Deportation der jüdischen Bevölkerung. Dem dänischen zivilen Widerstand ist es durch verschiedene Maßnahmen gelungen 95% aller dänischen Juden dem Zugriff der Nazis zu entziehen. Dänische Werften sollten während der Nazi-Besatzung Schiffe für die Deutschen bauen, was angesichts von Sabotage und Arbeitsverweigerung sehr erschwert wurde.

Ziel der Verteidigung ist es die eigene Lebensweise, also Sprache, Kultur, Erziehung, politisches System gegen die Vorgaben der Besatzer zu verteidigen und zu erhalten. Beispielsweise wehrten sich die norwegischen Lehrer erfolgreich gegen den Versuch in den Schulen Nazi-Ideologie lehren zu müssen.

Bei der Sozialen Verteidigung geht es also weniger um die territoriale Verteidigung der Landesgrenzen, als um die Verteidigung der eigenen, selbstbestimmten Lebensweise.

Gewaltlose Soziale Verteidigung und Ziviler Widerstand hat es schon immer in der Geschichte gegeben. Das waren oft spontane, ungeplante und unvorbereitete Aktionen, die aus einer gegebenen Situation entstanden sind. Heutige Erkenntnisse und Schlußfolgerungen über Soziale Verteidigung und Zivilen Widerstand sind in den letzten 50 Jahren erforscht und systematisiert worden. Einerseits beruhen die Erkenntnisse auf akribischen historischen Untersuchungen und Beschreibungen, als auch auf statistischen Auswertungen einer Vielzahl von Kampagnen des Zivilen Widerstandes. Nicht alle Forschungsergebnisse stammen aus Besatzungssituationen, viele stammen auch aus der Überwindung von Gewaltherrschaften und Diktaturen in einer Vielzahl von Ländern. Die Dynamik des Zivilen Widerstandes ist jedoch in Besatzungssituationen und beim Widerstand gegen eine Diktatur sehr ähnlich.



Wie funktioniert soziale Verteidigung?


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Zu Beginn einer Besetzung steht die Invasion der fremden Truppen.

Bei der Invasionsverteidigung geht es im Rahmen der zivilen gewaltfreien Verteidigung darum, den Vormarsch und die Besetzung des Landes zu verzögern und zu erschweren. Dadurch kann Zeit gewonnen werden, um noch letzte notwendige Vorbereitungen zu treffen. Letzte Vorbereitungen können der Start von geheimen Kommunikationssystemen sein, Instruktionen an Widerstandsgruppen, Übersiedlung der legitimen Regierung ins Ausland, Vernichtung von Dateien und Akten etc.

Die taktischen Mittel in dieser Phase sind Blockaden und Sabotage (z. B. Schweiz: Sprengkammern in den wichtigsten überregionalen Verbindungsstraßen).

Sicher ist, dass durch solche Maßnahmen die Besetzung nicht verhindert werden kann. Das ist aber auch nicht die Absicht. Sabotage und Blockaden sind erster Ausdruck des Widerstandswillens und des Zusammenhaltes der Bevölkerung.

Die Invasionsverteidigung ist der Beginn der Sozialen Verteidigung.

Wie gesagt ist der Zweck der Sozialen Verteidigung bzw. des Zivilen Widerstandes die Verteidigung der selbstbestimmten Lebensweise des besetzten Landes bis hin zum Abzug der Besatzer aus dem Land.

Um diesen Zweck, dieses Endziel, zu erreichen sind bestimmte strategische und taktische Maßnahmen der Verteidiger notwendig.


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Im Wesentlichen geht es um fünf strategische Ziele, die für den gewaltfreien zivilen Widerstand wichtig sind. Wegen der besseren Übersichtlichkeit werde ich diese fünf Ziele einzeln erläutern, sie hängen aber auch zusammen und greifen teilweise ineinander.

Bestimmte Taktiken und Aktionen bewirken sowohl bei der Bevölkerung, als auch beim Besatzer bestimmte Reaktionen, die zu den beabsichtigten Zielen führen sollen.


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Die unabdingbare Basis für jegliche wirksame soziale Verteidigung ist der Zusammenhalt in der Bevölkerung.


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Maßnahmen zur Schaffung von Zusammenhalt dienen dazu Gruppengefühl und Gruppenzusammenhalt herzustellen. Sie üben einen Konformitätsdruck auf Zögernde aus, sind eine Hilfe für Unentschlossene sich für den Widerstand zu entscheiden oder sich zumindest passiv zu verhalten. Das ist besonders zu Beginn der Widerstandskampagne wichtig, damit die geschockte Bevölkerung nicht in Ohnmacht und Apathie versinkt.

Aktionen sind zunächst vor allem risikoarme Beteiligungsmöglichkeiten, um möglichst viele Personen mit einzubeziehen. Das sind Aktionen wie „langsam gehen“, zu bestimmten Zeiten Lichter ausschalten, nicht auf die Straße gehen, bestimmte Kleidungsfarben tragen etc. Das können aber auch, je nach Situation dann Demonstrationen, Kundgebungen, kurze Proteststreiks, Geld- und Materialsammlungen u. a. sein.

Hilfreich dabei sind Symbole des Widerstandes und der Gemeinsamkeit. Norwegische Zivilisten haben während der deutschen Besatzung eine Büroklammer ans Revers gesteckt. Bestimmte Farben werden als Identifikationssymbol eingeführt (z. B. die orangene Revolution in der Ukraine 2004). Alle kennen das Logo der deutschen Antiatomkraftbewegung: „Atomkraft – nein danke“.

Wichtig ist die Sicherstellung von Informationssystemen (Plakate, Flyer, social media, Rundfunk), und die Etablierung einer Untergrundpresse. Semelin betont für den Widerstand gegen die Nazi-Besatzungen: „Die Presse war mehr als nur ein einfaches Instrument der Gegenpropaganda... Sie bildete vielmehr die zentrale Achse, um die herum die inneren Widerstände sich bilden und entwickeln konnten.“

Wichtig sind klare Botschaften, die für die jeweilige Situation und die jeweilige Kampagne stimmig sind.

Es gibt weitere Faktoren, die den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft gegen einen Besatzer fördern oder auch schwächen.

Erfahrungen aus den durch die Nazi-Wehrmacht besetzten Ländern haben gezeigt, dass die Haltung der legitimen Regierung, die vor der Besetzung im Amt war, dann wesentlich die Schaffung von Zusammenhalt unterstützte, wenn sie sich ohne wenn und aber gegen eine Zusammenarbeit mit den Besatzern entschied.

Ebenfalls von großer Bedeutung ist die Haltung, die wichtige, angesehene Gruppen der Gesellschaft zu Maßnahmen der Besatzung einnehmen. Während der Nazi-Besatzung in Norwegen waren das die Kirche und die Lehrer, in den Niederlanden die organisierte Ärzteschaft.

Allein die äußere Bedrohung eines Gemeinwesens fördert den Zusammenhalt, trotz einer brutalen Gewaltherrschaft, wie z. B. in Polen während des 2. Weltkrieges. Es war erklärtes Ziel der Nazis die polnischen Eliten und die polnische Kultur auszumerzen. Der polnische Widerstand machte es sich zur Aufgabe die polnische Kultur und Identität durch ein alle Stufen umfassendes Unterrichts- und Bildungswesen im Untergrund zu sichern. Insgesamt nahmen während des Krieges nahezu 100 000 Schüler, Gymnasiasten und Studenten an den Bildungsmaßnahmen teil. Einer der ehemaligen Akteure schrieb dazu: „Der geheime Unterricht für alle Schulstufen war die am meisten zu bewundernde Tat der polnischen Gesellschaft. Weder Flugblätter, Attentate noch Sabotage hatten eine solche Wirkung wie diese Demonstration des Nationalbewußtseins. Sie rettete unsere Gesellschaft vor einem Verlust, der der Zerstörung von Warschau in nichts nachgestanden hätte: dem Verlust von fünf Jahrgängen Abiturienten, Ingenieuren, Architekten, Ärzten und Professoren.“

Auch die fortwährende Verschlechterung der Lebensbedingungen, bedingt durch das Besatzungsregime, sind ein weiterer Faktor, der zu gemeinsamen Aktionen der betroffenen Menschen führen. Beispielsweise waren die Verschlechterung der Lebensbedingungen in den belgischen und französischen Stahl- und Kohlerevieren, die Rekrutierung zum Zwangsarbeitsdienst im Deutschen Reich ein gewaltiger Motor für die Entwicklung des Zusammenhaltes und des Widerstandswillens in den von den Nazis besetzten Gebieten. Es kam hier Anfang der 40er Jahre wiederholt zu Massenbewegungen und Streiks, an denen sich teilweise mehr als 100 000 Menschen beteiligten. Die Besatzer waren gezwungen den Berg- und Metallarbeitern nachzugeben, weil die Nazis auf ihre Arbeit angewiesen waren.

Zusammenhalt hat sowohl ein qualitatives, als auch ein quantitatives Maß.

Die Qualität des Zusammenhaltes zeigt sich in der Fähigkeit gegen Repressionen und Einschränkungen der eigenen Lebensführung Widerstand und Kampfkraft, auch über einen längeren Zeitraum, zu entwickeln und aufrecht zu erhalten.

Der quantitative Aspekt des Zusammenhaltes drückt sich aus in der Anzahl derer, die sich am Widerstand gegen die Besatzer beteiligen. 2011 haben die amerikanischen Forscherinnen Erica Chenoweth und Maria Stephan eine Untersuchung vorgelegt, in der sie herausfanden, dass keine Bewegung zum Sturz einer Diktatur gescheitert ist, nachdem 10 % der Bevölkerung des Landes aktiv an ihrem Spitzenereignis beteiligt waren. Die meisten hatten Erfolg, nachdem sie 3,5% mobilisiert haben.

Die Anzahl derer, die sich am zivilen Widerstand beteiligen ist wichtig, weil je mehr Menschen den Zivilen Widerstand unterstützen, um so vielfältiger können Widerstandsaktionen von verschiedenen Bevölkerungsschichten und verschiedenen Risikograden sein. Auch sind Widerstandsaktionen wirksamer, wenn sich möglichst viele Menschen daran beteiligen.


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Weil der Zusammenhalt der Schwerpunkt einer gewaltfreien Verteidigungsform ist, steht er bei den Besatzern auch im Mittelpunkt des Angriffs auf den zivilen Widerstand. Alle Maßnahmen der Besatzer haben nur Erfolgsaussichten, wenn sie den Zusammenhalt schwächen. Unterschiedsloser Terror gegen die Zivilbevölkerung ist meist keine wirksame Maßnahme gegen den Zusammenhalt, weil dadurch der Widerstandswille der Bevölkerung angestachelt wird. Das ist eine wesentliche Erkenntnis, die Besatzer zu anderen Maßnahmen greifen lassen. Der Terror ist für die Besatzer dann am wirksamsten, wenn er selektiv ist: er muss speziell gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen gerichtet sein und andere verschonen, um so einen Keil zwischen die Gruppen und die Solidarität zu treiben. Hierzu gehört auch die Bildung einer Quisling-Regierung. (Quisling-Regierung = Kollaborationsregierung)

Der Zusammenhalt, der sich auf intensives Vertrauen zu einigen wenigen Führungsfiguren stützt, ist besonders verwundbar. Spaltungsversuche zwischen Führung und Basis kann ein lohnendes Ziel für die Besatzungsmacht sein. Sei es, dass die Besatzer die Führungsfiguren, die einen hohen symbolischen Wert für den Zusammenhalt der Bewegung haben (z. B. Belarus), eliminieren oder sei es, dass die Führung zu einem Zeitpunkt für Kompromisse bereit ist, zu dem der Zivile Widerstand noch die Auseinandersetzung mit dem Besatzer sucht (CSSR) oder dass sie der Widerstandsführung Regierungsposten anbieten.


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Zivile Widerstandsbewegungen haben die Erfahrung gemacht, wenn ein diktatorisches System besonders repressiv gegen die Bevölkerung und den Zivilen Widerstand vorgeht, Teile der Widerstandsbewegung zu bewaffneten Aktionen gegen die Unterdrücker greifen. Objektiv wird dadurch der Zusammenhalt einer Gesellschaft vermindert, was im Interesse der Besatzer ist. Deshalb ist es auch eine Taktik der Besatzer die Besetzten zum gewaltsamen Widerstand zu provozieren (Agents provocateurs). Einerseits reagieren die Besatzer auf gewaltsame Maßnahmen mit äußerster Brutalität, bis hin zur Hinrichtung von Geiseln, andererseits wird für die Bevölkerung die Schwelle zur Teilnahme an Aktionen des gewaltlosen Zivilen Widerstandes heraufgesetzt. Chenoweth und Stephan haben in ihren Untersuchungen festgestellt, dass gewaltsamer Widerstand doppelt so oft scheitert wie gewaltfreier Widerstand. Die Aufrechterhaltung einer gewaltfreien Disziplin ist deshalb für den Erfolg einer Sozialen Verteidigung wesentlich.


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Die Besetzung und der Unterhalt eines Besatzungsregimes ist eine kostspielige und anstrengende Angelegenheit. Deshalb gehört es mit zu den Taktiken einer gewaltfreien zivilen Widerstandsbewegung die wirtschaftlichen und politischen Kosten für die Besatzung hoch zu treiben, damit die Aufrechterhaltung der Besatzung für den Angreifer immer untragbarer wird.

Eine langwierige Kampagne für die Nichtzusammenarbeit mit den Besatzern erhöht die Kosten (im weitesten Sinn) der Besatzung und kann so zu einer Zermürbung der Besatzungsmacht im Land, aber auch an der Heimatfront, beitragen.

Es geht darum, den Erfolg bei der Erreichung der Besatzungszwecke zu minimieren. Dafür gibt es verschiedene taktische Maßnahmen der Nichtzusammenarbeit. Dazu gehören Streiks, die Weiterarbeit ohne Kollaboration, die Verweigerung der Zusammenarbeit von Behörden mit der Besatzungsmacht, Verzögerungen durch langsames Arbeiten, die Schwejk-Methode (Verweigerung durch Unfähigkeit zu verstehen, supergenaue Durchführung von angeordneten Maßnahmen), Kauf-Boykotte, punktuelle Sabotage etc.

Besatzer sind in der Regel nicht in der Lage die Verwaltung eines Gemeinwesens auf den verschiedenen Ebenen aus eigener Kraft zu bewerkstelligen. Deshalb versuchen sie bestehende Verwaltungen und deren Angestellte für sich zu gewinnen oder gar eine Quisling-Regierung einzusetzen. Wenn ihnen das nicht gelingt und sie eigene Kräfte einsetzen müssen, verursacht das erhöhte Besatzungskosten.

Gewaltfreie Widerstandsgruppen haben auch die Kosten-Nutzen-Analyse der Besatzer verändert, indem sie gegnerisches Personal zum Überlaufen veranlassten, deren Zuverlässigkeit herabsetzten und zusätzliche Personalinvestitionen erforderlich machten. Ein bemerkenswertes Beispiel gab es während der zweiten Intifada, als eine zivile Widerstandsbewegung innerhalb des israelischen Militärs entstand, die im Juni 1988 eine Petition von mehr als 500 Reservisten unterzeichnete, in der sie ihre Weigerung zum Ausdruck brachten, in den besetzten Gebieten zu dienen.

Schließlich können Widerstandskräfte im Rahmen gewaltfreier Kampagnen versuchen, einer Regierung politische Kosten aufzuerlegen, unter anderem indem sie einen Keil zwischen die Regierung des Aggressors und dessen eigener Gesellschaft treiben.

Der während der ersten palästinensischen Intifada (1987-1992), organisierte gewaltfreie Widerstand in den besetzten Gebieten hat die israelische Öffentlichkeit polarisiert und progressive Gruppen innerhalb der israelischen Gesellschaft gegen die eigene Regierung mobilisiert.

Auch die Verhängung von internationalen Sanktionen können zu einer Erhöhung der Kosten für den Besatzerstaat führen.


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Indem die Widerstandsbewegung an der Legitimität der bisherigen Regierung festhält betont sie zugleich die Illegitimität des Besatzungsregime. Ob die bisherige Regierung aus dem Untergrund versucht den zivilen Widerstand zu koordinieren oder ob eine Exilregierung gebildet wird oder ob der Widerstand durch eine eigenständige Organisation geleitet wird – all das sind Versuche zu verhindern, dass sich die Besatzung politisch festsetzen kann. Dazu gehört auch die Verweigerung an von den Besatzern organisierten Wahlen teilzunehmen oder das Beharren auf bisherigen Rechtsgrundsätzen oder die Nicht-Anerkennung einer Quisling-Regierung.

Der Versuch die Kontrolle über die nationalen wirtschaftlichen Strukturen zu behalten kann die nationale Industrie vor der Ausbeutung durch einen Besatzer schützen. Im deutsch besetzten Dänemark zum Beispiel führte die dänische Zivilbevölkerung Streiks, Arbeitsniederlegungen, "früher nach Hause gehen"-Tage, Boykotte und und Sabotageakte durch. Dies führte dazu, dass es der Nazi-Besatzung nicht gelang die vollständige Kontrolle über die dänische Werftindustrie zu übernehmen.

Die Bewahrung der kulturellen Eigenarten einer Nation kann die Solidarität in einer besetzten Gesellschaft stärken. Das Festhalten an nationalen Feiertagen, an der eigenen Sprache oder am religiösem Brauchtum stärkt den Zusammenhalt und die Identität der Besetzten. So waren religiöse Feiertage in den sowjetisch besetzten Baltischen Staaten ein wichtiger Ausdruck des Widerstandes gegen die fremde kommunistische Ideologie.


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Die Besatzungsmacht versucht ständig den Zusammenhalt der Gesellschaft zu schwächen und den zivilen Widerstand zu brechen. Eine wichtige Aufgabe der sozialen Verteidigung besteht deshalb darin, die Fähigkeiten der Besatzungsmacht zur Unterdrückung zu verringern. Umgekehrt geht es darum auf die hemmenden Faktoren, die der Repression entgegenstehen einzuwirken. Diese zielen auf die Unterdrückung ausführenden Organe (Militärverwaltung, Truppen), auf die heimische Basis der Besatzer und auf die internationale Ebene.

Dies geschieht durch die Beeinflussung der öffentlichen Meinung, auch im Heimatland des Gegners, durch das Festhalten an der Gewaltlosigkeit, durch Betonung der Illegitimität der Besatzer, durch Beharrung auf den Menschenrechten und Völkerrechtlicher Bestimmungen, durch Veröffentlichung der Repressionen im In – und Ausland. Dies geschieht durch Apelle an das Mitgefühl und die allgemeinmenschlichen Einstellungen beim Gegner und dessen heimischer Öffentlichkeit , sowie der internationalen Öffentlichkeit.

Das Festhalten an der Gewaltlosigkeit ist wichtig, um eine klare Trennung von Kombattanten und Nichtkombattanten zu demonstrieren. Das dient auch dem Schutz der Zivilbevölkerung vor Repressionen und dem Vorwurf, mit den bewaffneten Kämpfern zusammenzuarbeiten und dann als Kombattanten behandelt zu werden.

Bestimmte Widerstandsmethoden verringern die direkte Konfrontation mit den Besatzern.

Beim Wechsel zwischen risikoreichen und risikoarmen Methoden gehen Repressionsversuche ins Leere und der Gegner kann sich nicht auf bestimmte Aktionen einstellen. Dies geschieht z. B. durch den Wechsel von Methoden der Konzentration (z. B. Demonstrationen, Kundgebungen, Streik) und Methoden der Zerstreuung (z. B. Zu Hause bleiben, gleichzeitig alle Lichter einschalten etc.).

Ein taktischer Rückzug ist dann sinnvoll, wenn öffentliche Aktionen - wie verstreut auch immer - einfach zu riskant sind, die Bewegung aber gut organisiert und gut genug ausgerüstet ist, um sich auf den Aufbau ihrer parallelen Institutionen wie alternative Schulen, Medien, Sozialprogramme und alltägliche Formen des Widerstands zu konzentrieren, wie es beispielsweise beim Kampf der polnischen Solidanosc gegen die kommunistische Herrschaft war.


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Externe Unterstützung durch internationale Organisationen (z. B. UNO, IGH), durch internationale Boykottmaßnahmen (z. B. Südafrika) oder auch durch staatliche Maßnahmen, wie die Verhängung von Sanktionen oder direkte materielle Unterstützung können einen bedeutenden Beitrag zur internationalen Isolierung des Aggressors leisten, weil sie die politischen und wirtschaftlichen Kosten für den Besatzer erhöhen.

Viele glauben, dass Ziviler Widerstand nicht gegen Regime erfolgreich sein kann, die zu allen erdenklichen Gräueltaten bereit sind. Auch in einer nach außen monolithisch erscheinenden Diktatur gibt es Widersprüche, Rivalitäten und Machtkämpfe bei den Eliten, die von einer Widerstandsbewegung ausgenutzt werden können.

Dass auch gegen das terroristische Nazi-Regime ziviler, unbewaffneter Widerstand wirksam war, haben die bereits beschriebenen Beispiele gezeigt. z. B. Untergang der DDR, Polen...

Klar ist jedoch auch, dass exzessive staatliche Brutalität für den Zivilen Widerstand ein großes Hindernis ist, an dem viele Bewegungen gescheitert sind. Vielfach scheitert jedoch auch der bewaffnete Widerstand, der mit höheren Verlusten an Menschenleben und Infrastruktur verbunden ist. Eine Untersuchung hat gezeigt, dass zwischen 1946 und 2013 gewaltfreie Bewegungen, die auf die Beseitigung von Machtstrukturen abzielten, pro Jahr 105 Todesopfer zu beklagen hatten, während bewaffnete Aufstände in diesem Zeitraum 2800 Todesopfer forderten.

Die zunehmende Brutalität eines Staates und die desaströse Menschenrechtslage sind andererseits eine der Hauptgründe, warum sich Menschen überhaupt erheben und sich den Widerstandsbewegungen anschließen. Damit wird das Hauptziel der Besatzer, den Zusammenhalt der Bevölkerung zu zerschlagen, durch Repressionen oft konterkariert. Generell kann man sagen: je größer die Repression, desto größer der Widerstand.

Je bedrohter sich ein Machtsystem fühlt, desto eher ist es bereit zu gewaltsamer, auch tödlicher Unterdrückung zu greifen. Untersuchungen haben ergeben, dass zwischen 1900 und 2019 in 88% aller Regime zu tödlicher Unterdrückung, auch gegen gewaltfreie Bewegungen, gegriffen haben. Bei den gewaltsamen Revolutionen waren es sogar 94%.


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Im Rahmen von Repressionen kommt es auch zu Massentötungen. Massentötungen sind Episoden staatlicher Gewalt, bei denen mindestens 1000 Zivilisten getötet werden. Eine andere Untersuchung, die zwischen 1955 und 2013 durchgeführt wurde ergab, dass es bei ca. 23% (der rechte Kreis) aller gewaltfreien Widerstandskampagnen zu Massentötungen gekommen ist. Hingegen kam es bei etwa 70% (der linke Kreis) der gewaltsamen Widerstandskampagnen zu Massentötungen.

Evan Perkoski und Chenoweth haben die Revolutionen nach dem Zweiten Weltkrieg untersucht und festgestellt, dass gewaltloser Widerstand im Vergleich zu bewaffnetem Widerstand die Wahrscheinlichkeit von Massentötungen deutlich verringert. Tatsächlich ist der bewaffnete Kampf von 1955 bis 2013 der stabilste Prädiktor für regierungsbedingte Massentötungen. Das liegt daran, dass Massengräueltaten willige Henker erfordern, also Sicherheitskräfte oder Milizen, die über Monate oder Jahre hinweg eine große Zahl von Menschen im Kampf getötet haben. Gewaltfreie Widerstandskampagnen erschweren dies, da sie oft zu einer Ambivalenz bei den Sicherheitskräften führen, die keine friedlichen Zivilisten töten wollen und stattdessen überlaufen, ungehorsam sind oder sich vor der Durchführung von Befehlen drücken. Infolgedessen verringert der gewaltfreie Widerstand selbst die Wahrscheinlichkeit von Massentötungen (auch wenn er sie nicht ausschließt)


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Ob der zivile Widerstand auch gegen umfangreiche Repressionen erfolgreich ist, hängt im wesentlichen von den folgenden Faktoren ab:

Das ist der Zusammenhalt einer Bewegung. Wie bereits früher erläutert ist Zusammenhalt die unabdingbare Voraussetzung jedes gewaltfreien zivilen Widerstandes. Dazu bedarf es einer starken Organisation, d. h. einer umsichtigen Führung, die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung der Kommunikation, einer gewaltfreien Disziplin, eines guten Aktionsplanes und einer kollektiven Vorstellung von dem, was die Bewegung erreichen will und wie es einer Bewegung gelingt Stützpfeiler des Regimes zu neutralisieren oder für sich zu gewinnen.

Hinzu kommt der politische Status einer Bewegung. D. h. Wenn sie über die zahlenmäßige, wirtschaftliche oder soziale Macht verfügen, um aus eigener Kraft Veränderungen herbeizuführen, wenn das Überleben der Besatzungsmacht direkt vom Gehorsam der Bürger abhängt. Bei militärischen Besetzungen ist die Besatzungsmacht oft auf die Kooperation der örtlichen Bevölkerung angewiesen, was dieser eine erhebliche Macht verleiht.

Damit sind auch zusammenfassend die wichtigsten Bedingungen für den Erfolg einer sozialen Verteidigung benannt.

Natürlich gibt es weder für die militärische Verteidigung, noch für die soziale Verteidigung eine Erfolgsgarantie.


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Letztendlich geht es darum, dass durch die Verteidigung möglichst wenig von dem zerstört und vernichtet wird, was bewahrt werden soll und um dessentwillen verteidigt wird. Nur wer lebt kann individuelles und gesellschaftliches Leben gestalten.


Bei der Verfassung dieses Vortrages wurde folgende Literatur benutzt:

Fiala, Otto C., „Resistance operating concept – ROC“, Joint special operations university press, 2020

Anika Binnendijk, Marta Kepe, „Civilian based resistance in the Baltic States“ RAND Corporation, www.rand.org/pubs/research_reports/RRA198-3.html

Boserup, Anders und Mack, Andrew „Krieg ohne Waffen?“ Rowohlt Taschenbuch, 1974

Chenoweth, Erica und Stephan, Maria „Why Civil Resistance works: The strategic logic of non violent conflict“, Columbia University Press, 2011

Chenoweth, Erica „Civil Resistance – What everyone needs to know“, Oxford University Press 2021

Perkoski, Evan und Chenoweh, Erica, „Nonviolent resistance and prevention of mass killings during popular uprisings“ 2018 ICNC Press

Ackermann, Peter „The checklist to end tyranny: How Dissidents Will Win 21st Century Civil Resistance Campaigns, 2021 ICNC Press

Semelin, Jacques „Ohne Waffen gegen Hitler“, 1995 dipa Verlag